Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
Den Alltag gestalten. Was vielen Menschen selbstverständlich erscheint, kann für andere eine echte Herausforderung sein. So fällt es nicht nur manchen älteren und mental eingeschränkten Personen schwer, die zeitliche Strukturierung des Tages, die Einhaltung eines Schlaf-Wach-Rhythmus und die Pflege von Freundschaften eigenständig sicherzustellen. Solche Aufgaben können in jeder Lebensphase – unabhängig vom körperlichen Allgemeinzustand – eintreten.
Und genau darum geht es in Modul 6: die Überprüfung, ob die Person dazu in der Lage ist, selbstständig ihr Alltagsleben zu gestalten und soziale Kontakte zu pflegen.
Gut zu wissen
Die Herausforderung bei der Begutachtung mit Blick auf Modul 6: Der Begutachter muss sich am bisherigen Lebensstil des Antragstellers orientieren. Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass viele Antragsteller zum Zeitpunkt der Begutachtung ihre Aktivitäten bereits ihrer abnehmenden Selbständigkeit angepasst haben. Daher sollte man beim Begutachtungstermin darauf achten, dass die Einschätzung der folgenden Kriterien zu diesem Modul für die Aktivitäten vorgenommen wird, die zum Alltag des Antragstellers gehörten, als er noch vollkommen selbständig war.
Den Alltag selbstständig gestalten
Erfasst wird, ob und in welchem Maße der Antragsteller praktisch dazu in der Lage ist, sein gewohntes Alltagsleben selbständig zu gestalten und Kontakte mit Freunden, Familie und Bekannten aufrechtzuerhalten. Maßgebend für den Grad der Selbständigkeit sind Umfang und Intensität von Hilfestellungen durch andere Personen.
Die Einstufung in Modul 6 ‚Gestaltung des Alltagslebens‘
So errechnet der Gutachter den Pflegegrad
Der Pflegegrad wird errechnet. In jedem Modul werden dazu Punkte vergeben. Von den insgesamt maximal erreichbaren 100 gewichteten Punkten, können in Modul 6 maximal 15 Punkte für den Pflegegrad erreicht werden.
Im sechsten Modul werden Fähigkeiten (in der untenstehenden Tabelle als ‚Kriterien‘ bezeichnet) bepunktet. Hierbei steht im Fokus, ob die begutachtete Person auf Unterstützung von außen angewiesen ist. Diese Fähigkeiten werden dabei anhand von einer 4-stufigen Skala bewertet.
Im sechsten Modul werden also folgende Kriterien bepunktet:
- Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen
- Ruhen und Schlafen
- Sich beschäftigen
- Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen
- Interaktion mit Personen im direkten Kontakt
- Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds
Doch wie werden die Punkte vergeben? Hier eine Erläuterung:
- Selbstständig: Die Person kann die Handlung selbstständig ausführen. Es kann sein, dass sie dabei langsamer ist oder Hilfsmittel braucht. Entscheidend ist, dass sie keine Hilfe von anderen Personen benötigt. Kurzfristige oder seltene Probleme werden nicht berücksichtigt.
- Überwiegend selbstständig: Die Person kann den größten Teil der Aktivität selbständig ausführen. Deshalb unterstützt die Pflegeperson nur in geringem Umfang. Überwiegend selbständig bedeutet, dass eine oder mehrere der folgenden Hilfen nötig sind:
- Vorbereitung der Aktivität: Die Pflegeperson richtet Gegenstände so her, dass die Person sie selbst nutzen kann.
- Aufforderung: Die Pflegeperson muss die Person eventuell mehrmals an die Durchführung der Aktivität erinnern.
- Entscheidungsfindung: Die Pflegeperson bietet verschiedene Optionen zur Auswahl an – die Person entscheidet dann selbst.
- Beaufsichtigung und Kontrolle: Die Pflegeperson prüft, ob die Handlung korrekt und sicher durchgeführt wird.
- Übernahme von Teilhandlungen: Die Pflegeperson hilft nur bei einzelnen Schritten, die Person macht den Großteil selbst.
- Anwesenheit aus Sicherheitsgründen: Die Pflegeperson ist dabei, um bei möglichen Gefahren (wie etwa Stürzen) einzugreifen.
- Überwiegend unselbstständig: Die Person kann einen geringen Teil der Aktivität selbständig ausführen, benötigt jedoch umfassende Unterstützung und Motivation. Wichtige Unterstützungsmaßnahmen können wie folgt aussehen:
- Aufwendige Motivation: Die Pflegeperson muss die Person intensiv motivieren, besonders bei psychischen Erkrankungen.
- Umfassende Anleitung: Die Pflegeperson muss den Handlungsablauf zeigen und begleiten, da die Person ihn nicht allein sinnvoll ausführen kann.
- Ständige Beaufsichtigung und Kontrolle: Die Pflegeperson muss ständig bereit sein, einzuschreiten und zu helfen.
- Übernahme von Teilhandlungen: Die Pflegeperson übernimmt einen erheblichen Teil der Handlungsschritte.
- Unselbstständig: Die Person kann die Aktivität nicht selbständig ausführen. Es sind kaum Fähigkeiten vorhanden. Aufwendige Motivation, umfassende Anleitung und ständige Beaufsichtigung reichen nicht aus. Die Pflegeperson muss fast alle Handlungsschritte übernehmen.
Die Bewertungskriterien im Alltag
Kriterium 1: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen
Im Modul ‚Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte‘ in Modul 6 rücken 6 Kriterien in den Fokus der Begutachtung. Sie sind in obiger Tabelle im Abschnitt ‚So errechnet der Gutachter den Pflegegrad‘ aufgelistet. Das erste Kriterium dreht sich hierbei um die Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen.
Wichtig: Hierbei geht es ausschließlich um die Planung des Alltags – nicht um die praktische Umsetzung. Die ist Bestandteil anderer Module.
Zum Beispiel: Herr Thomson plant seinen Alltag eigenständig. Er plant morgens um 8 Uhr zu frühstücken, gegen 12 Uhr Mittag zu essen und möchte sich um 17:30 Uhr Abendbrot machen. Kommenden Dienstags und Freitag möchte er außerdem nach dem Abendessen noch ein Bad nehmen. Außerdem plant er, morgen Nachmittag mit einem Bekannten spazieren zu gehen. Herr Thomson gelingt diese Planung. Er kann sich zeitlich bestens orientieren und dem Gutachter genau schildern, wie sein gestriger Tag aussah und was die kommenden Tage geplant ist.
In diesem Beispiel plant Herr Thomson seinen Alltag komplett selbstständig. Das heißt, Herr Thomson kann seinen Alltag ohne personelle Hilfe planen. Anders wäre es, wenn Herr Thomson ausschließlich Routineabläufe – und diese auch nur weitgehend selbständig – gestalten könnte. Er bräuchte dann etwa Erinnerungshilfen an einzelne vereinbarte Termine und/oder bei ungewohnten Veränderungen Unterstützung. In diesem Fall wäre er überwiegend selbstständig.
Überwiegend unselbständig wäre Herr Thomson, wenn er Hilfe beim Planen des Routinetagesablaufs benötigen würde, aber in der Lage ist, Zustimmung oder Ablehnung zu der Tagesplanung zu geben. Als gänzlich unselbstständig müsste man Herr Thomson einstufen, wenn er an der Planung der Tagesstruktur gar nicht mehr (oder nur minimal) mitwirken kann.
Kriterium 2: Ruhen und Schlafen
Das zweite Kriterium dieses Moduls ist die Fähigkeit, nach der eigenen Gewohnheit einen Tag-Nacht-Rhythmus einzuhalten und für ausreichende Ruhe- und Schlafphasen zu sorgen.
- Selbständig: Die Person kann ohne personelle Hilfe den Tag-Nacht-Rhythmus einhalten und hat ausreichend Ruhephasen.
- Überwiegend selbständig: Die Person benötigt personelle Hilfe beim Aufstehen oder Zu-Bett-Gehen.
- Überwiegend unselbständig: Es treten regelmäßig (nahezu jede Nacht) Einschlafprobleme oder nächtliche Unruhe auf, die die Person größtenteils nicht alleine bewältigen kann. Deshalb sind aufwendige Einschlafrituale oder beruhigende Ansprache in der Nacht erforderlich.
- Unselbständig: Die Person verfügt über keinen oder einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus.
Kriterium 3: Sich beschäftigen
Den Alltag selbständig gestalten zu können, scheint selbstverständlich. Besonders wenn es um das geht, Dinge, die man liebt, in den Alltag zu integrieren. Etwa Hobbys und andere Freizeitaktivitäten. Doch so einfach ist es nicht!
Tatsächlich ist es manchen Menschen nicht möglich, ihre verfügbare Zeit im Sinne ihrer Vorlieben zu nutzen. Wie stark das auf den Antragsteller zutrifft, wird mit diesem Kriterium berücksichtigt. Bei der Beurteilung geht es vorrangig um die Fähigkeit, geeignete Aktivitäten der Freizeitbeschäftigung auszuwählen und auch praktisch durchzuführen.
- Selbständig: Die Person kann sich ohne personelle Hilfe beschäftigen.
- Überwiegend selbständig: Die Person benötigt nur in geringem Maße Hilfe, z. B. muss die Tageszeitung bereitgelegt werden oder eine Erinnerung an gewohnte Aktivitäten stattfinden.
- Überwiegend unselbständig: Die Person kann sich an Beschäftigungen beteiligen, aber nur mit umfassender Anleitung, Begleitung oder motorischer Unterstützung.
- Unselbständig: Die Person kann an der Entscheidung oder Durchführung nicht nennenswert mitwirken. Sie zeigt keine Eigeninitiative, kann Anleitungen und Aufforderungen nicht kognitiv umsetzen und beteiligt sich nicht oder nur minimal an angebotenen Beschäftigungen.
Kriterium 4: Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen
Auch bei Kriterium 4 geht es – wie bei Kriterium 1 – um die Planung. Allerdings nicht um die Planung des Alltags, sondern um die Planung von (besonderen) Ereignissen, die in der Zukunft liegen. Etwa ein runder Geburtstag in wenigen Wochen.
In diesem Kriterium geht es aber nicht nur darum, ob der Antragsteller in der Lage ist, so weit im Vorhinein zu planen, sondern auch, ob stark ausgeprägte psychische Problemlagen verhindern, dass sich die Person mit Fragen des zukünftigen Handelns auseinandersetzt.
- Selbständig: Die Person kann ohne personelle Hilfe in die Zukunft planen.
- Überwiegend selbständig: Die Person nimmt sich etwas vor, muss aber daran erinnert werden, die geplanten Dinge auch durchzuführen. Als überwiegend selbständig gilt außerdem, wer zwar selbständig planen und entscheiden kann, aber unter eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit oder Sinneswahrnehmung leidet und daher Hilfe benötigt, um den geplanten Ablauf mit den Personen des näheren Umfelds abzustimmen.
- Überwiegend unselbständig: Die Person plant von sich aus nicht, entscheidet aber mit Unterstützung durch andere Personen. Sie muss an die Umsetzung der eigenen Entscheidungen erinnert werden oder benötigt bei der Umsetzung emotionale oder körperliche Unterstützung.
- Unselbständig: Die Person verfügt nicht über die nötige Zeitvorstellung für Planungen über den Tag hinaus. Auch bei Vorgabe von Auswahloptionen wird weder Zustimmung noch Ablehnung signalisiert.
Kriterium 5: Interaktion mit Personen im direkten Kontakt
Kontakt pflegen und aufnehmen können – aber auch auf Ansprache reagieren können – darum geht es bei Kriterium 5.
- Selbständig: Die Person kann ohne personelle Hilfe mit anderen Menschen in Kontakt treten.
- Überwiegend selbständig: Im Gespräch mit vertrauten Personen kann die Person selbstständig kommunizieren. Bei unbekannten Personen braucht sie jedoch Unterstützung, zum Beispiel an der Haustür. Auch gelegentliche Hilfe bei Sprech-, Sprach- oder Hörproblemen zählt hier dazu.
- Überwiegend unselbständig: Die Person ergreift von sich aus kaum Initiative. Sie muss angesprochen oder aufwendig motiviert werden, reagiert dann aber verbal oder deutlich erkennbar auf die Motivation.
- Unselbständig: Die Person reagiert nicht auf Ansprache. Auch andere Formen des Kontaktversuchs, z. B. Berührungen, führen zu keiner nennenswerten Reaktion.
Kriterium 6: Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Deshalb hat man tagtäglich auch mit Menschen zu tun, die sich nicht im direkten Umfeld befinden, etwa mit Freunden oder Nachbarn. Diese Kontakte zu pflegen – etwa digital bzw. telefonisch – darum geht es bei Kriterium 6.
- Selbständig: Die Person kann ohne personelle Hilfe Kontakt zu Freunden und Bekannten aufrechterhalten und mit diesen Personen in Kontakt treten (etwa telefonisch).
- Überwiegend selbständig: Die Person kann planen, braucht aber Hilfe beim Umsetzen der geplanten Vorhaben, etwa in Form von einem Erinnerungszettel an ein Telefonat oder durch das Bereitlegen der Telefonnummer.
- Überwiegend unselbständig: Die Kontaktgestaltung der Person ist eher reaktiv. Sie sucht von sich aus kaum Kontakt, wirkt aber mit, wenn beispielsweise die Pflegeperson die Initiative ergreift.
- Unselbständig: Die Person nimmt keinen Kontakt außerhalb des direkten Umfeldes auf und reagiert nicht auf Anregungen zur Kontaktaufnahme.
Missverständnisse im Modul 6
Faustregel: Ehrlich schildern, wo Unterstützung notwendig ist.
Bei der Begutachtung kann es in Modul 6 („Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“) zu Missverständnissen kommen, die dazu führen können, dass der Hilfebedarf unterschätzt wird.
- Selbstständigkeit wird überschätzt
- Viele Pflegebedürftige geben an, ihren Alltag ‚alleine zu bewältigen‘, obwohl sie tatsächlich Erinnerung, Anleitung oder Motivation brauchen.
- Beispiel: Eine Person vergisst regelmäßig, sich zu beschäftigen oder ihre Tagesstruktur einzuhalten, muss aber von Angehörigen motiviert werden – das gilt als Hilfebedarf!
- Unterstützung im sozialen Bereich wird nicht erkannt
- Viele denken, dass es nur um körperliche Einschränkungen geht, aber auch die Fähigkeit, soziale Kontakte zu pflegen, ist entscheidend.
- Beispiel: Wenn jemand sich nicht mehr traut, allein nach draußen zu gehen oder Angst hat, mit Fremden zu sprechen, ist das eine Einschränkung.
- Psychische und kognitive Probleme werden übersehen
- Menschen mit Demenz, Depressionen oder Angststörungen haben oft Schwierigkeiten, sich selbst zu beschäftigen oder soziale Kontakte aufrechtzuerhalten.
- Fehlannahme: „Die Person verlässt ja das Haus nicht, also braucht sie keine Unterstützung.“ → Doch! Wenn sie durch Ängste oder Unsicherheit daran gehindert wird, zählt das als Einschränkung.