Wenn die Psyche im Alter leidet
Panikattacken, gestörte Impulskontrolle, innere Anspannung und Ängste können durch psychische Erkrankungen ausgelöst werden und in jedem Alter stattfinden. Doch gerade mit zunehmendem Alter lassen sich Verhaltensweisen und psychische Problemlagen beobachten, die durch gesundheitliche Einschränkungen und Gesundheitsprobleme hervorgerufen werden.
Der Fokus dieses Moduls liegt auf der Frage, wie stark das Verhalten der betroffenen Person dazu führt, dass sie auf die Unterstützung einer Pflegeperson angewiesen ist. Besonders bei psychischen Erkrankungen legt der Gutachter großen Wert darauf zu prüfen, ob der Unterstützungsbedarf über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten besteht. Dabei spielen vor allem vier Punkte eine entscheidende Rolle:
- Hat der Betroffene bereits eine Psychotherapie begonnen oder abgeschlossen?
- Liegt eine aktuelle oder vergangene psychiatrische bzw. neurologische Behandlung vor?
- Besteht eine Behandlung in einer psychiatrischen Klinik?
- Liegt ein Medikamentenplan vor, in welchem schwere Depressionsmedikamente verordnet werden?
Missverständnisse und Stolpersteine
Vor, während und nach dem Begutachtungstermin kommt es häufig zu Missverständnissen bei der Bewertung von Modul 3. Damit wird an dieser Stelle aufgeräumt. Um in Modul 3 Punkte zu erhalten, muss mindestens eine der vier oben genannten Fragen bejaht werden. Das muss zudem durch eine ärztliche Diagnose oder einen Arztbefund dokumentiert werden.
Ebenso spielt die Wohnsituation des Antragstellers eine Rolle. In der Praxis wird bei Begutachtungen oft argumentiert, dass Personen, die allein wohnen und Verhaltensweisen oder psychische Problemlagen aufweisen, keine Unterstützung von anderen Personen haben – und somit auch nicht brauchen. Umso wichtiger ist es, im Gutachten zu beschreiben, welche Pflegeperson in welchem Maße Unterstützung leistet, da sonst der Unterstützungsbedarf nicht anerkannt wird.
Außerdem gibt es psychische Auffälligkeiten, die keine Berücksichtigung in Modul 3 finden. Dazu gehören:
- Herausfordernde Verhaltensweisen aufgrund von Partnerschaftsproblemen
- Altersdepression, die sich durch Interessenlosigkeit, Freudlosigkeit oder verminderten Antrieb äußert
- Zukunftsängste aufgrund der Verschlechterung der Krankheit oder finanzieller Sorgen
Psychische Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit
Punkteverteilung im Modul 3 ‚Verhaltensweisen und psychische Problemlagen‘
Von den maximal 100 gewichteten Punkten im Pflegegradgutachten können bis zu 15 Punkte im Modul 3 erreicht werden.
Gut zu wissen
Die Punkte aus Modul 3 werden nur dann bei der Ermittlung des Pflegegrades berücksichtigt, wenn im Modul 2 weniger Punkte erzielt wurden. Beispielsweise, wenn im Modul 2 11,25 gewichtete Punkte erreicht wurden, im Modul 3 jedoch 15 Punkte, werden nur die 15 Punkte aus Modul 3 zur Berechnung des Pflegegrades herangezogen. Die 11,25 Punkte aus Modul 2 werden in diesem Fall nicht berücksichtigt.
Im dritten Modul werden 13 Verhaltensweisen (in der untenstehenden Tabelle als ‚Kriterien‘ bezeichnet) bepunktet. Wie immer steht hierbei im Fokus, ob die begutachtete Person auf Unterstützung von außen angewiesen ist. Diese Verhaltensweisen werden anhand von einer 4-stufigen Skala bewertet.
Die Kriterien im Modul 3 ‚Verhaltensweisen und psychische Problemlagen‘ werden anhand einer 4-stufigen Skala bewertet, die die Häufigkeit des Auftretens erfasst:
- nie oder sehr selten = 0 Punkte
- selten, ein- bis dreimal innerhalb von zwei Wochen = 1 Punkt
- häufig, zweimal bis mehrmals wöchentlich = 3 Punkte
- täglich = 5 Punkte
Im Gegensatz zu den anderen Modulen sind die Kriterien im Modul 3 nicht abschließend festgelegt, sondern lediglich beispielhaft dargestellt. Einige Verhaltensweisen lassen sich nicht eindeutig einem einzelnen Kriterium zuordnen – etwa Beschimpfungen, die sowohl als verbale Aggression als auch als andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten betrachtet werden können.
Entscheidend ist, ob und wie häufig diese Verhaltensweisen eine personelle Unterstützung erforderlich machen. Bei der Kombination unterschiedlicher Verhaltensweisen wird die Häufigkeit von Vorfällen, die einen Unterstützungsbedarf auslösen, nur einmal erfasst; so wird beispielsweise nächtliche Unruhe im Zusammenhang mit Angstzuständen entweder unter Punkt 4.3.2 oder unter Punkt 4.3.10 bewertet.
Die Bewertungskriterien im Alltag
Kriterium 1: Motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten
Dieses Kriterium beschreibt Verhaltensweisen wie das ziellose Umhergehen in der Wohnung oder in der Einrichtung sowie den Versuch, als desorientierte Person ohne Begleitung die Wohnung oder Einrichtung zu verlassen oder unzugängliche Orte aufzusuchen, zum Beispiel das Treppenhaus oder die Zimmer anderer Bewohner. Auch rastloses Verhalten, wie ständiges Aufstehen, Hinsetzen oder Herumrutschen auf dem Sitzplatz oder im Bett ist in diesem Kriterium zu werten. Dabei spielen auch die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten der pflegebedürftigen Person eine Rolle.
Kriterium 2: Nächtliche Unruhe
Ältere Menschen ab 60 Jahren leiden besonders häufig unter Schlafstörungen – Schätzungen zufolge leidet rund die Hälfte der Menschen in dieser Altersklasse darunter. Ein Teil davon ist so stark von den Schlafstörungen betroffen, dass diese Menschen Unterstützungsbedarf benötigen. Etwa durch beruhigendes Zureden. In diesem Fall spricht man von ‚nächtlicher Unruhe‘. Sie ist ein essenzieller Faktor in der Begutachtung und als Kriterium zu berücksichtigen.
Kurzum: Nächtliches Umherirren oder nächtliche Unruhephasen, die bis zur Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus führen können (aktiv sein in der Nacht und schlafen am Tag), sind zu berücksichtigen. Bewertet wird hierbei, wie oft personelle Unterstützung zur Beruhigung und gegebenenfalls zum Zurückbringen ins Bett benötigt wird. Aber auch die Auswirkungen auf die Selbstständigkeit.
Gut zu wissen
Schlafstörungen wie Einschlafschwierigkeiten am Abend oder Wachphasen während der Nacht sind nicht zu berücksichtigen. Andere nächtliche Hilfen, die nichts mit Beruhigung zu tun haben – etwa Orientierungshilfen, Hilfe bei nächtlichen Toilettengängen oder körperbezogene Pflege – werden nicht in diesem Modul, sondern in Modul 6 gewertet.
Kriterium 3: Selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten
Dieses Kriterium umfasst Verhaltensweisen, bei denen sich die Person selbst schädigt als Folge von Erkrankungen, zum Beispiel durch das Verletzen mit Gegenständen, das Essen oder Trinken ungenießbarer Substanzen, das Selbstschlagen oder das Verletzen mit Fingernägeln oder Zähnen.
Kriterium 4: Beschädigen von Gegenständen
Darunter fallen aggressive Handlungen, die sich gegen Gegenstände richten. Etwa das Wegstoßen oder Wegschieben von Gegenständen, das Schlagen gegen Gegenstände, das Zerstören von Dingen sowie das Treten nach Gegenständen.
Kriterium 5: Physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen
Dieses Kriterium umfasst physisch aggressive Handlungen gegenüber anderen Personen, wie das Schlagen oder Treten nach Personen, das Verletzen anderer mit Zähnen oder Fingernägeln, das Stoßen oder Wegdrängen von Personen oder das Verletzen anderer Personen mit Gegenständen.
Kriterium 6: Verbale Aggression
Dieses Kriterium bezieht sich auf verbale Beschimpfungen oder Drohungen gegen andere Personen im Rahmen der Pflegebedürftigkeit.
Kriterium 7: Andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten
Hierunter fallen Verhaltensweisen wie lautes Rufen, Schreien, Klagen ohne nachvollziehbaren Grund, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Schimpfen oder Fluchen.
Wichtig: Nicht nur Beschimpfungen und Beleidigungen sind hier zu berücksichtigen. Auch das von sich geben seltsamer Laute sowie das ständige Wiederholen von Sätzen und Fragen fällt in den Bereich von Kriterium 7.
Kriterium 8: Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen
Dieses Kriterium umfasst die Abwehr von Hilfestellungen und deren Auswirkungen auf die Selbstständigkeit, zum Beispiel bei der Körperpflege, die Verweigerung der Nahrungsaufnahme oder der Medikamenteneinnahme sowie die Manipulation von medizinischen Vorrichtungen, wie Kathetern oder Infusionen.
Kriterium 9: Wahnvorstellungen
Wahnvorstellungen oder Wahngedanken an sich stellen meist kein eigenständiges Krankheitsbild dar, finden aber als Kriterium in der Begutachtung ihren Platz. Das hat seinen Grund: Sie kommen im Rahmen zahlreicher psychischer Erkrankungen vor, können aber auch Ausdruck völliger Vereinsamung sein oder aber auf organische Ursachen – wie etwa Schwerhörigkeit – zurückzuführen sein.
Wahnvorstellungen können sich beispielsweise darin äußern, dass die Person glaubt, Kontakt mit Verstorbenen oder imaginären Personen zu haben, oder überzeugt ist, verfolgt, bedroht oder bestohlen zu werden.
Kriterium 10: Ängste
Bei diesem Kriterium geraten wiederkehrende, ausgeprägte Ängste – die als bedrohlich empfunden werden und die Person stark belasten – in den Fokus. Die Betroffenen haben keine eigenen Strategien zur Bewältigung, was zu erheblichen psychischen oder körperlichen Beschwerden und Beeinträchtigungen im Alltag führt und somit auch zwingend einen Unterstützungsbedarf von einer Pflegeperson notwendig macht.
Ängste können nicht nur bei Angststörungen, sondern auch bei Schizophrenie, Depression oder somatischen Erkrankungen wie Krebserkrankungen auftreten.
Gut zu wissen
Ebenso wie im Kriterium der nächtlichen Unruhe bestehen in der Praxis oft Missverständnisse zu der Definition von Ängsten. Oft sind Antragssteller der Meinung, dass ihre Ängste nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Dabei sind Ängste nur zu werten, wenn diese wiederkehrend sind und Unterstützungsbedarf erfordern. Ängste aufgrund von Krankheiten, Zukunftsängste oder Ängste aufgrund finanzieller Sorgen fallen nicht unter dieses Kriterium und werden auch nicht gewertet. Darüber hinaus sollte ein ärztlicher Befund vorliegen, aus dem die Ängste hervorgehen. Ebenso entsprechende Medikation.
Kriterium 11: Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage
Antriebslosigkeit ist eine schwere Form der Antriebsstörung. Die depressive Stimmungslage zeigt sich durch Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung und kann sogar zu kompletter Gefühllosigkeit führen. Betroffene haben wenig bis kein Interesse an ihrer Umgebung und bringen kaum Eigeninitiative auf; sie benötigen intensive Motivierung durch andere.
Damit ist Kriterium 11 gut umschrieben. In diesem Kriterium geht es um das Vorliegen einer schweren Depression. Diese hat übrigens nichts mit einer Altersdepression zu tun, die sich durch Interessenlosigkeit, Freudlosigkeit oder verminderten Antrieb äußert. Dieses Kriterium bezieht sich auf das Vorliegen einer schweren Depression. Für die Wertung im Pflegegutachten ist es zudem zwingend erforderlich, dass die Depression durch einen ärztlichen Befund sowie entsprechende Medikation nachgewiesen wird.
Kriterium 12: Sozial inadäquate Verhaltensweisen
Sozial inadäquate Verhaltensweisen umfassen distanzloses Verhalten, das auffällige Einfordern von Aufmerksamkeit, das Entkleiden in unpassenden Situationen sowie unangemessene Berührungen oder sexuelle Annäherungsversuche (sowohl körperlich als auch verbal).
Kriterium 13: Sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen
In diesem letzten Kriterium sind mehrere Verhaltensweisen zusammengefasst. Etwa das Nesteln an der Kleidung, das ständige Wiederholen der gleichen Handlung (Stereotypien), planlose Aktivitäten, das Verstecken oder Horten von Gegenständen, das Kotschmieren oder das Urinieren in die Wohnung.
Jedes Kriterium nimmt Einfluss auf die Punktzahl
Psychische Einschränkungen im Alter sind entscheidend
Jedes Kriterium wird je nach Häufigkeit bewertet:
- 0 Einzelpunkte = nie oder sehr selten
- 1 Einzelpunkte = selten, ein- bis dreimal innerhalb von zwei Wochen
- 3 Einzelpunkte = häufig, zweimal bis mehrmals wöchentlich
- 5 Einzelpunkte = häufig
Achtung: Nicht die Einzelpunkte fließen in die Wertung des Pflegegrads ein, sondern nur die gewichteten Punkte. Die gewichteten Punkte errechnen sich wie folgt:
- 0 Einzelpunkte = 0 gewichtete Punkte
- 1 bis 2 Einzelpunkte = 3,75 gewichtete Punkte
- 3 bis 4 Einzelpunkte = 7,5 gewichtete Punkte
- 5 bis 6 Einzelpunkte = 11,25 gewichtete Punkte
- 7 bis 65 Einzelpunkte = 15 gewichtete Punkte
Hilfreiche Tipps für die Begutachtung
Gut vorbereitet in Modul 3 ‚Verhaltensweisen und psychische Problemlagen‘
- Alleinlebende Antragsteller: Bei alleinlebenden Antragstellern kann es in der Praxis schwierig sein, zu bewerten, ob und wie häufig eine Verhaltensweise oder psychische Problemlage die Unterstützung einer anderen Person notwendig macht. In solchen Fällen ist es hilfreich, die Unterstützung durch das soziale Umfeld (bspw. Nachbarn) des Antragstellers im Vorfeld zum Begutachtungstermin genau zu dokumentieren. Alternativ können erforderliche Unterstützungsmaßnahmen und entsprechende Auffälligkeiten in Arzt- und Entlassungsberichten dokumentiert werden.
Wichtig: Ein alleinlebender Antragsteller benötigt nicht automatisch keine Unterstützung, nur weil er bisher keine personelle Hilfe erhalten hat. - Nur einmalige Erfassung erlaubt: Die Unterstützung bei kombinierten Verhaltensweisen und Problemlagen darf nur bei einem Kriterium erfasst werden. Mehrfache Erfassungen derselben Situationen sind nicht zulässig.